Robert Mohr

Sex mal um den ganzen Globus!

 

 

Über das Liebesleben der Völker – ein Ethno-Bericht

 

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Der Autor: Robert Mohr wurde 1966 in Lettland geboren. Er studierte Geographie und Völkerkunde, lernte als Studienreiseleiter die Welt kennen und verdient sich sein Geld als freier Presse- und TV-Journalist in Deutschland und Rußland.

 

Für Nina –

und nicht nur für die schönen Stunden.

 

Deutsche Erstausgabe

© Gatzanis Verlags-GmbH Stuttgart 1996

Umschlaggestaltung: AC, Stuttgart

Alle Rechte vorbehalten, auch die der fotomechanischen und elektronischen Wiedergabe sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile

 

 

Inhalt

Vorwort

Keuschheit – die genommene Lust

Vor der Ehe

Inzucht – ein natürliches oder anerzogenes Tabu

Beschneidungen – Triebbekämpfungen besonderer Art

Hochzeit – oder der Anfang einer Tiefzeit

Ehe – Himmel oder Hölle auf Erden

Beischlaf – das gute, alte Stöpselspiel

Der Klapperstorch

Bevölkerungskontrolle – ein Kind kommt selten allein

Treue und Fremdgehen

Scheidung

Lust als Lebenselexier

Männlich und weiblich

Schönheitsideale

Prostitution – geliebte Hure, doch gehaßt

Homosexualität

Selbstbefriedigung

Religion

Anal versus oral

Sex und Tod

Schlußbemerkung

 

 

Vorwort

Sex ist nach Atmen, Essen und Schlafen die meistverbreitete Sache der Welt. Vom Stuhlgang abgesehen, ist aber Sex gleichzeitig auch das am meisten tabuisierte Thema überhaupt. In vielen Gesellschaften ist die Sexualität mehr oder weniger scharfen Beschränkungen unterworfen. Einige, wie zum Beispiel die Shakersekte in den USA oder der Klerus der römisch-katholischen Kirche, eliminieren ihn sogar aus ihrem Leben.

Sex ist neben dem Streben nach Macht oder Reichtum die Hauptantriebskraft für die meisten menschlichen Unternehmungen. So ist Sex, gerade weil er tabuisiert ist, weltweit ein Quell von Lust und Frust. Eine bestimmte Sexpraktik kann in der einen Gesellschaft bestraft, in der zweiten toleriert und in der dritten erwünscht sein. Der Umgang mit Sex hat von Kulturkreis zu Kulturkreis eine enorme Bandbreite. Er reicht von den wenigen Orgasmen pro Jahr bei den Eingeborenen Perus bis zu den Mehrfachorgasmen innerhalb einer einzigen Nacht in Zentralafrika. Den Peruanern hat es beispielsweise besonders der Analverkehr angetan, und die sexuell unermüdlichen Stämme Zentralafrikas bevorzugen die Seite-an-Seite-Stellung. Dort haben selbst 60jährige noch täglich Beischlaf.

Aber auch innerhalb einer Gesellschaft gibt es allerhand Variationen. Oft unterscheidet sich die öffentliche Moral erheblich vom tatsächlichen privaten Verhalten im Bett.

Deshalb interessieren den Autor dieses Buches nicht nur Einzelbeispiele im sexuellen Verhalten, sondern das „Warum“ zu bestimmten Verhaltensregeln. Die aufgestellten Thesen zu einem Thema, das noch nie so im Vergleich der Kulturen beleuchtet wurde, sollen den sexuellen Horizont erweitern und geben Anregung sowohl zum Gespräch als auch zum Handeln.

 

 

Keuschheit – die genommene Lust

Vielleicht wurde die Keuschheit nur erfunden, um die Wollust noch mehr anzuheizen.

 

Keuschheit, Jungfräulichkeit und sexuelle Abstinenz sind Wertvorstellungen, die wie kaum etwas anderes die westliche Kultur geprägt haben. Sie gelten als positive Verhaltensnorm. Menschen, die dieser Norm kritisch gegenüberstehen, benutzen dafür allerdings negative Begriffe wie Prüderie, Verklemmtheit oder Frigidität. Diese Ausdrücke sind sozusagen Synonyme für das Wort Keuschheit, wenn auch, wie gesagt, unter einem negativen Blickwinkel. Jedem, der sich ein wenig umsieht, fällt auf, daß zwischen Norm oder Ideal und tatsächlichem Verhalten eine enorme Lücke klafft. Das gilt für den einzelnen genauso wie für ganze Institutionen, wie zum Beispiel die katholische Kirche.

Vor allem das Christentum mit seinem Gebot „Du sollst nicht falsch Zeugnis ablegen“ scheint sich beim Thema Sex geradezu ständig zu widersprechen. Wie verträgt sich zum Beispiel die Aufforderung zum „Liebet einander und mehret Euch“ auf der einen Seite mit der Aufforderung zur Keuschheit auf der anderen? Warum kritisierte Jesus die Tätigkeit Maria-Magdalenas mit keinem Wort, obwohl sie eine Prostituierte war? Offensichtlich war er nur an ihrem Glauben interessiert und nicht an ihrem Umgang mit Sex. Er hielt sie, gerade weil sie die öffentliche Moral verletzte für aufrichtiger, als jene, die offiziell keusch lebten, aber im Geheimen diese Moral verletzten. Sagte Jesus je etwas gegen die Ehe oder gegen den Geschlechtsverkehr? Nein. Es fragt sich, woher kommt dann die verbissene, dogmatische Forderung nach dem Zölibat für katholische Priester?

Wir sehen, die Berichte über Jesus und seine Aussagen sind eine Sache, das Christentum ist aber eine andere. Das Christentum ist wie die anderen großen Religionen zuerst einmal eine Ideologie. Es postuliert ein Ideal, etwas Ausgedachtes, wie das Wort ja schon sagt. Mit den natürlichen Bedürfnissen und dem natürlichen Verhalten der Menschen haben aber Idealvorstellungen oft wenig bis gar nichts zu tun. Mittlerweile wissen wir, daß der Mensch, wie seine nächsten Verwandten im Tierreich, die Primaten, weder für die Monogamie noch für die Keuschheit geschaffen ist. Gerade die uns genetisch am ähnlichsten Bonobos, eine Schimpansenart, zeigt, daß Sex vielmehr eine wichtige soziale Kommunikationsform ist und deshalb auch bei uns eine enorme, über den reinen Arterhalt hinausreichende Bedeutung hat. Sex ist also weit mehr, als nur eine Fortpflanzungstätigkeit, die darauf beschränkt, eigentlich nur einmal im Jahr oder fünfmal im Leben stattfinden müßte. Sex ist ein wichtiges soziales Bindemittel. Ohne permanente Lust wäre zum Beispiel eine gemeinsame Kinderaufzucht mit der langwierigen Einführung der Kinder in die menschliche Gesellschaft gar nicht möglich. Es ist die permanente Sexlust, die Menschen zu Paaren und damit zu Familien zusammenfinden läßt. Lust und Sex sind somit wichtig für die Erziehung und somit auch für die Entwicklung der menschlichen Fertigkeiten.

Doch die permanente Lust hat auch ihre Kehrseite. Sie bringt mit sich, daß sich der Mensch theoretisch alle zehn Monate reproduzieren könnte oder – mit anderen Worten – eine gesunde Frau im Verlauf ihres Lebens etwa 30 Kinder zur Welt bringen könnte. Selbst für die kinderfreundlichste Gesellschaft, mit den besten Umweltbedingungen, wäre das eine untragbare Wachstumsrate. Dennoch sind maximale Wachstumsraten immer wieder erwünscht gewesen. So zum Beispiel bei der Kolonisation von Neuland oder während Eroberungskriegen. Während des Zweiten Weltkriegs in Deutschland oder jüngst im iranisch-irakischen Krieg waren ähnliche Wünsche nach einer möglichst hohen Reproduktionsrate laut geworden. Die Frauen wurden zu Wurfmaschinen degradiert.

Knappe Lebensräume und begrenzte Ressourcen haben den Menschen jedoch schon in seiner frühesten Entwicklungsstufe gelehrt, seine eigene Art zu beschränken. Daraus könnte sich das Ideal der Enthaltsamkeit entwickelt haben. Die erfolgreiche Geburtenkontrolle, ohne die technischen und medikamentösen Mittel unserer Zeit, war auf einen religiösen Keuschheitsmythos angewiesen.

Im Laufe der Zeit wurde Sex immer mehr als etwas dem Menschen Unwürdiges dargestellt. Etwas, das mit einem gottesfürchtigen Leben nicht zu vereinbaren sei. So war denn auch im mittelalterlichen Abendland, durch die Fülle von kirchlichen Feiertagen oder die gesamte Fastenzeit, Sex an nahezu zwei Dritteln des Jahres untersagt. „Ora et Labora“ galten nicht nur für Mönche als erstrebenswerte Tugenden, sondern sollten das Tagwerk der gesamten Menschheit bestimmen. Dafür standen einem die Himmelspforten offen. Doch der Sexus, als im Menschen biologisch verankertem Trieb, ließ sich nicht unterdrücken oder verleugnen. Immer wieder gab es Aufweichungserscheinungen, die sogar in erotischen Himmelsvisionen von Künstlern zum Ausdruck kamen. Nackte Engel, stillende Marias und Götter wie in der Sixtinischen Kapelle des Vatikans knüpften an die erotische Vergangenheit der Griechen und Römer an. Immer wieder wurden Wege gefunden, um an das fleischliche Vergnügen lange noch vor der Ehe zu kommen. Voreheliche Kinder oder das berühmte Kuckucksei, in Form eines fremden Kindes, waren im Mittelalter durchaus keine Seltenheit. Eine Ehre waren sie jedoch nicht.

Längst nicht alle Gesellschaften teilen mit uns diese negative Einstellung. Die Eskimos z.B. sehen eine voreheliche Schwangerschaft als einen Beweis für die Fruchtbarkeit der Frau. Sie verliert dadurch keinesfalls an Ansehen, sondern erfreut sich im Gegenteil allergrößter Beliebtheit.

Es wäre nun falsch, anhand der Eskimos die Behauptung aufzustellen, daß allen Naturvölkern die Treue nichts bedeutet. Während es den Eskimos auf die Jungfräulichkeit ihrer Bräute kaum ankommt, stellt sie für die Ureinwohner von Samoa durchaus einen erstrebenswerten Wert dar. Aber auch bei ihnen fand man Mittel und Wege, dem menschlichen Bedürfnis nach ungehindertem geschlechtlichem Umgang gerecht zu werden. Die Samoaner haben sich dazu die Rolle der „Dorfjungfer“ ausgedacht. Hierbei wird einem Mädchen die Jungfräulichkeit stellvertretend für alle anderen auferlegt.

Die Jungfräulichkeit dieser sogenannten „Dorfjungfer“ wird alljährlich offiziell und vor den Augen des versammelten Dorfes geopfert. Diese Opferfeier könnte man in etwa unserem Buß- und Bettag gleichsetzen, denn (vor allem sexuelle) Vergehen werden dabei vergeben und weggewaschen.

Als Höhepunkt des Opferzeremoniells wird dann die vermeintliche Jungfrau öffentlich entjungfert. Oft stellt sich heraus, daß sie gar keine Jungfrau mehr ist. In solchen Fällen steht ein Bottich mit Hühnerblut bereit. Nachdem man das unartige Mädchen ausgeschimpft hat, wird ihre mehr oder minder jungfräuliche Scham in Hühnerblut getränkt und alle können jetzt sehen, daß die „Dorfjungfer“ doch noch eine Jungfrau ist. Hühnerblut zur Vortäuschung von Jungfräulichkeit ist nicht nur sakral, sondern auch privat bei normalen Hochzeiten hoch im Kurs. Natürlich bemüht sich das Mädchen, es den Bräutigam nicht merken zu lassen und er seinerseits heuchelt Zufriedenheit vor. Selbst dann heuchelt er noch, wenn er genau weiß, daß sie bereits beim letzten Busch-Rendezvous keine Jungfrau mehr war. Die Rüge gegenüber dem Mädchen fällt allerdings nie zu heftig aus, egal ob privat oder als offizielle Dorfjungfrau. Es sind vor allem die Frauen der Familie, die das Mädchen zurechtweisen.

Der Wert der Jungfräulichkeit hängt natürlich eng zusammen mit der gesellschaftlichen Bedeutung der ehelichen Verbindung. Je höher die gesellschaftliche Stellung der Braut, desto mehr Wert wird auf ihre Jungfräulichkeit gelegt. So waren es im mittelalterlichen Europa vor allem die Frauen und Töchter des Adels, die am strengsten in Abstinenz lebten. Einer gemeinen Frau wurde kein Keuschheitsgürtel angelegt. Das war vornehmlich ein Privileg der Edlen. Die Edelfrauen wurden gut bewacht und mußten ihren Mägden deren Sinneslust neiden. Denn bei den Dienstmädchen nützte auch das Pfaffengeplapper von „Sünde und Verderben“ nach erfolgter Fleischeslust wenig. In den Feldern und Heuschobern war viel Platz. Die Tiere im Stall machten es vor und so ließ das Herumexperimentieren mit dem anderen Geschlecht nicht lange auf sich warten. Erst mit dem Aufkeimen einer Freizeitgesellschaft ist der Sex enttabuisiert worden. Paradoxerweise ist er aber dadurch gleichzeitig fast zur Bedeutungslosigkeit degradiert worden. Zwar wurde noch nie so viel über Sexualität und ihre diversen Arten oder Abarten gesprochen, doch im gleichen Ausmaß, wie man das Thema heute breittritt, reduziert sich der praktische Umgang mit Sex. Sexualwissenschaftler sprechen davon, daß Sex mittlerweile nur noch eines der vielen Konsumgüter in unserer Konsumgesellschaft geworden ist. Der allgemeine Überdruß an immer neuen Waren und an der Werbung für diese scheint sich katastrophalerweise jetzt auch auf die Sexualität zu beziehen. Es wird heute, wie Ernest Bornemann es ausdrückte, „immer weniger gebumst“. Diejenigen, denen es die Lust noch nicht verschlagen hat weichen aber zum einen wegen AIDS, zum anderen wegen der sogenannten „Political correctness“, durch die jede Art von Sexualität auf ihre Übereinstimmung mit den Normen eines prüden Feminismus hin überprüft wird, auf die Phantasie aus. Die Prognosen für die Zukunft sehen jedenfalls nicht gerade rosig aus. Statt lustvollem und ungehindertem Sex durch alle Betten wird vermutlich mehr oder weniger steriler Cybersex aus dem Computer die Sinnesfreuden bestimmen.

Doch kommen wir noch einmal auf die samoanische „Dorfjungfer“ zurück. Sie sollte unbedingt die Tochter einer Schwester des Häuptlings sein, denn damit wird auch der Matrilinearität, der Bestimmung der verwandtschaftlichen Beziehungen durch die Frau, Rechnung getragen. Die gesellschaftlich hohe Stellung des Mädchens, welches die schwierige Rolle der offiziellen Jungfrau auf sich genommen hat, führt dazu, daß es für einige Burschen ein besonderer Anreiz und ein besonderer Prestigegewinn ist, gerade dieses hochgestellte Mädchen vorher zu verführen und zu entjungfern.

Nicht zuletzt damit ist Samoa ein klassisches Beispiel einer doppelten Moral, allerdings erst seit dem Eingreifen des Christentums. Zwar war vorher schon Heuchelei im Kult der „Dorfjungfer“ verbreitet, aber die Missionare machten alles noch ein wenig komplizierter. Nehmen wir als Beispiel die Tanzfolklore Samoas. Das was wir als oberflächlicher Besucher zu sehen bekommen, sind niedliche Tanzvorstellungen mit dem üblichen Südseeflair. All diese Tänze spiegeln jedoch nur eine Facette der samoanischen Tanzwelt wider, nämlich die Welt des erotischen Nachttanzes. Diese Tänze wurden ursprünglich nicht nachts abgehalten, sondern bei erotischen Anlässen. Erst die Zuordnung der herrlich obszönen Tänze zum Teufel brachte ihnen die Bezeichnung Nachttänze ein. Denn durch die kirchliche Ächtung war ihre Aufführung wirklich nur noch im Untergrund und zur nächtlichen Stunde möglich.

Wie man sich denken kann, spielen beim Tanz die Hüften der Frauen eine entscheidende Rolle. Je virtuoser das Hüftezucken, um so größer die Wertschätzung bei den Männern. Vor allem bei Zusammenkünften mit befreundeten Stämmen spielten diese Tänze eine besondere Rolle. Ihr Zweck war es vor allem, die Gäste zu betören, um ihnen beim Tauschhandel so richtig das Fell über die Ohren ziehen zu können. Dazu war jedes Mittel recht, auch die sexuelle Hingabe der eigenen Frauen.

 

 

Vor der Ehe

Gott hat Mann und Frau als Zwillingspaar geschaffen und sie am Tage, als er die Zärtlichkeit schuf, durchtrennt.

„Sodome et Gomorhe“ Girandoux

 

Der fünfjährige Khol ließ sich von seinem Onkel aus dem Moskitokorb heben, gähnte noch einmal und zerzauste seine Haare. Dann kletterte er hurtig, wenn auch noch etwas unsicher, den Stufenbalken hinunter und eilte zum Frühstück. Seine Mutter hatte gerufen. Seine kleine Cousine blieb zurück im Moskitonetz. Sie zog es heute vor, noch etwas länger zu faulenzen. Es sei ihr gegönnt, dachte der Vater; schließlich hatte sie eine anstrengende Nacht hinter sich.

Kein perverses Szenario einer modernen Laissez-faire-Erziehung, sondern Realität. Und auch nicht Realität einer fernen Zukunft, sondern höchstens einer unbekannten Gesellschaft. Die Rede ist von den Mundugumor im Hochland von Neuguinea. Für die nächtlichen Sexspiele ihrer Kinder haben die Mundugumor sogar einen eigenen Namen. Sie sprechen in so einem Fall von „Moskitokorb-Ehen“. Niemand erwartet von den kleinen Zausköpfen, daß sie es auch wirklich miteinander treiben, doch der Nachahmungstrieb der Kinder ist nicht zu unterbinden. Wozu auch, sagen die Mundugumor. Es ist ein gutes Training für die spätere Ehe. Sie sollen es ruhig lernen, bevor sie sich in das Unglück stürzen. Erfahrungen haben noch keinem geschadet, schließlich ist selbst Casanova nicht vom Himmel gefallen. Diese allenfalls den progressivsten Befürwortern einer antiautoritären Erziehung zusagenden Thesen sind in Neuguinea schon so alt, daß keiner mehr ihre Ursprünge kennt. Es war schon immer so, sagen die Alten und erinnern sich nicht ohne Schmunzeln an die eigene Kindheit. Plötzlich mit der Initiation, also der Aufnahme des Heranwachsenden in die Gemeinschaft der Erwachsenen, wird bei den Mundugumor alles anders. Ab diesem Zeitpunkt ist nämlich Sex zwar nicht verpönt, jedoch sollte man sich dabei nicht erwischen lassen, sonst wird man zum Gespött der Nachbarn. Also ziehen sich die Erwachsenen in den Busch zurück und rechtfertigen sich bei ihrer Rückkunft mit mehr oder minder originellen Ausreden. Der Phantasie sind praktisch keine Grenzen gesetzt.

Etwas anders als auf Neguinea verhält es sich mit dem Kindersex auf Trobriand in der Melanesischen Südsee. Auch hier weiß man, daß fünf- bis zehnjährige durchaus sexuelle Interessen haben. Daran ist auch nichts auszusetzen, solange die Kinder dabei das strikte Geschwistertabu wahren. Dieses Tabu erstreckt sich freilich auch auf ein Sextabu zwischen Eltern und ihren Kindern. Um diesem Tabu gerecht zu werden, ist bei den Trobriandern nicht der Vater sondern der Onkel bei der Erziehung die Hauptperson. Die Jungs unterstehen einem Onkel mütterlicherseits, die Töchter einem Onkel väterlicherseits. Man denke hierbei auch an die Rolle von Pateneltern bei uns.

Die Wissenschaft erklärte diese in vielen Gesellschaften vorkommende Umverteilung der Verantwortung für ein Kind mit dem Bedürfnis nach größtmöglicher Verflechtung innerhalb der Großfamilie.

Meine These dagegen: Es kommt vor allem darauf an, dem Inzesttabu vorzubeugen, vor allem dem Vater-Tochter-Koitus. Da von vornherein die Onkel Haupterziehungsberechtigte der minderjährigen Mädchen sind, kann es allenfalls zu einem Onkel-Nichte-Koitus kommen. Die Väter leben meist nicht einmal in der Nähe ihrer Töchter.

Auch bei den Melanesiern ist das, was bei uns als abnorm gilt und als kriminell verfolgt wird, nicht erwünscht, wird aber eher toleriert. Denn obwohl sie sich der Inzucht in ihrer kleinen Gesellschaft bewußt sind, geben sie dem sogenannten Elektrakomplex – also Tochter mit erziehendem Onkel – nach. Jedenfalls hat er keine gesellschaftliche Ahndung zur Folge.

Ein Stigma ist er dennoch. Jedoch wissen sie sich die Trobriander durch eine entsprechende Auslegung zu helfen. Danach ist die Eltern-Kinder-Beziehung durch die Schutz- und Liebesbedürftigkeit der Kinder grundsätzlich anders als die Mann-Frau-Beziehung, und selbst wenn aus einer solchen Verbindung Nachwuchs hervorgeht, sei sie nicht eigentlich sexueller Natur.

Zum anderen wäre da der Bruder-Schwester-Akt. Er gilt als weitaus verwerflicher als der Geschlechtsverkehr zwischen Eltern und Kindern. Daher wird frühzeitig versucht, den Kindern über wahrhaft grauslige Horrorlegenden jegliches Interesse an einer solchen Beziehung auszutreiben. Aber es kommt erst gar nicht zu den unerwünschten Geschlechtskontakten zwischen Brüdern und Schwestern, da die Kinder sich jeweils bei einem anderen Onkel aufhalten, dort also häufiger sind, als bei sich selbst zu Hause. Durch den Kontakt mit Kindern aus anderen Familien kommen die potentiellen Kinder-Lover also auch aus den unterschiedlichsten Familien.

Gerne spielen die Kleinen das Mann-Frau-Spiel. Dabei organisieren sie sich in Gruppen zu mehreren Pärchen und helfen einander bei der Nachahmung der Erwachsenenwelt. Unter Berücksichtigung der geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung üben sie den Hausbau, das Kämpfen und das Kochen. Am liebsten sind ihnen dabei die Ausflüge in das Inselinnere. Höhepunkt ist ein Picknick. Immer wieder verziehen sich einzelne Paare, um durchaus ernsthaften Sex zu haben. Mit langweiligen Doktorspielchen geben sie sich nicht zufrieden.

Was auf Neuguinea die Kinderehe und auf Trobriand das Mann-Frau-Spiel, ist auf Mangaia in Polynesien das sogenannte Motoro, zu deutsch etwa „Sexklau“. Er ist den Unverheirateten vorbehalten. Dabei geht der Junge so vor, daß er sich nachts in das Haus seiner Angebeteten schleicht und versucht, sie zum Beischlaf zu bewegen. Der Geschlechtsverkehr spielt dabei noch eine untergeordnete Rolle. Viel wichtiger ist, daß es dem Jungen gelingt, seine Überzeugungskunst unter Beweis zu stellen. Der Junge soll das Flirten erlernen. Und je schwerer die äußeren Bedingungen im Training, um so besser das Ergebnis im Ernstfall. Allerdings leisten die Mädchen nicht allzuviel Widerstand. Sie zieren sich zwar ein bißchen, aus Anstand, denn sie wollen die Jungen auf die Probe stellen. Meistens jedoch sind diese nächtlichen Besuche schon vorher zwischen den Jugendlichen ausgemacht. Eine Bereitschaft beim Mädchen kann also vorausgesetzt werden. Die wirkliche Hürde bei diesem ungewöhnlichen Spiel ist also weniger der Widerstand des Mädchens, sondern die Tatsache, daß der „Sexklau“ sich quasi vor der Nase der Eltern abspielt. Man bedenke, die Häuser auf Mangaia bestehen nur aus einem Zimmer. Die Gefahr, daß die Eltern schon beim ersten Verführungsversuch aufwachen, ist groß. Noch größer ist natürlich die Wahrscheinlichkeit, daß sie während des eigentlichen Koitus aufwachen.

Wichtiger sogar als der Trainingseffekt, ist natürlich das Prestige, das ein Junge damit vor seinen Kameraden erwirbt. Es ist nicht anders als bei uns. Möglichst viele Mädchen vor der Nase ihrer eigenen Eltern verführt zu haben, trägt zu einer enormen Prestigesteigerung bei. Dabei setzen die Mangaien die Kunst des Verführens der Kunst des Klauens gleich. Eben darum auch der etwas verwirrende Name für diesen Brauch, „Sexklau“. Auch der Status des Vaters der Verführten ist bedeutend. Die Tochter des Schamanen herumzukriegen, zählt nämlich fünfmal so viel wie das Betören einer gemeinen Fischerstochter.

Eigentlich grenzt es fast an ein Wunder, daß der „Sexklau“ so selten auffliegt. Doch bald schon finde ich die Erklärung dafür. Die Eltern sind nicht ganz so ahnungslos, wie ihre Kinder glauben und wissen genau, was abgeht. In Erinnerung an die eigene Jugend greifen sie aber nur selten ein. Im Gegenteil, sie sehen es als ein durchaus gutes Omen, wenn ihre Tochter nachts unmißverständliche Laute der Wollust von sich gibt. Das zählt als ein Zeichen dafür, daß sich eine dauerhafte und glückliche Bindung zwischen den jungen Leuten entwickelt. Nur bei extremen Statusunterschieden zwischen den jungen Liebenden und beim Verstoß gegen das Inzesttabu wird eingeschritten.

Ein weiterer Grund der elterlichen Intervention ist ein zu reger Freierverschleiß ihrer Tochter. Schließlich handelt es sich immer noch um „Sexklau“. Und wer möchte sich schon alles vor der Nase wegschnappen lassen. Denn genauso wie er für den Jungen und seine Familie eine Prestigesteigerung bedeutet, ist er für die Familie des Mädchens mit einem Prestigeverlust verbunden, der nur durch ein entsprechendes Handeln des eigenen Sohnes wettgemacht werden kann.