INES WITKA

 

 

 

 

RAUSCH

 

 

Theater der Lust

 

Band 2

 

 

Roman

 

 

 

 

 

 

Gatzanis_Roman

 

 

 

 

Theater der Lust, Rausch

Copyright © Ines Witka im Gatzanis Verlag, Stuttgart 2019

www.ineswitka.de; www.gatzanis.com

Copyright ©2019 by Ines Witka

Autorin: Ines Witka

Gestaltung: Ines Witka

Fotografie: ©Vince Voltage; www.vincevoltage.com/

Model: Ita - It's art; http://ita-its-art.wixsite.com/ita-its-art
Gesamtherstellung: Bookwire Gesellschaft zum Vertrieb digitaler Medien mbH, Frankfurt

Die Verwertung der Texte (im Print und digital), auch auszugsweise, ist ohne Zustimmung des Verlags urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmung und die Verarbeitung mit elektronischen Systemen.

Printed in Germany
ISBN: 978-3-948161-02-6

 

 

Videostar

 

Es ist Sommer. Es ist heiß. Es ist später Nachmittag. Ich schlendere durch den Stadtpark, Gil, die beste Freundin, die ich je hatte, an meiner Seite. Ihr einziges Zugeständnis an die Hitze sind die bis zu den Ellbogen hochgekrempelten Blusenärmel, sodass die Tätowierung Forget the rules auf der Unterseite ihres Unterarmes zu lesen ist. Menschen starren sie an. Sie fällt auf, immer, nicht nur hier im Park. Das liegt nicht an dem von ihr bevorzugten eigenwilligen, an die 60er Jahre angelehnten femininen Kleidungsstil, der heute aus einem weit ausgestellten, taillenbetonenden Rock, hautfarbenen Netzstrümpfen, Peeptoes und der weißen Bluse besteht. Das liegt nicht am akkurat geschnittenen Pony oder den mit dunklen Farben umrandeten Augen. Bemerkenswerter als ihr Äußeres ist ihre Ausstrahlung. Ein kühles Selbstbewusstsein, das sagt: »Ich setze mich durch. Niemals füge ich mich irgendwelchen Erwartungen.« Darin unterscheidet sie sich von anderen Frauen. Darin unterscheidet sie sich von mir.

Ich hingegen in einem hellblau-weiß gestreiften Baumwollsommerkleid falle nicht auf, und niemand wird vermuten, dass ich dabei bin, mein Leben auf den Kopf zu stellen.

Ein paar Kinder spielen an einem Wasserbecken und eine Mutter ruft: »Vorsicht!«

Vorsicht!, das ist der Ruf aller Ängstlichen. Für mich hat er ausgedient. Das klingt vielleicht übertrieben. Doch ich hatte mich die letzten Monate auf einige Situationen eingelassen, die viel Mut erforderten. Dazu zähle ich auch die Treffen mit François Jugnot. Ich weiß wenig über ihn und habe mir vorgenommen, Gil über ihn auszufragen. Sie scheint ihn gut zu kennen, denn als er bei der Premiere des Stückes Abendessen mit berühmten Fotografen im Liliths Secret Theatre aufgetaucht war, hatte sie sich sehr vertraut mit ihm unterhalten.

Kaum haben wir im Schatten der Kastanien am letzten freien Tisch des Cafés Platz genommen, frage ich schon: »Hast du die Sache mit François eingefädelt?«

Der kirschrot geschminkte Mund in ihrem ovalen Gesicht lächelt. »Ich kenne François schon lange. Er hat mich nach einer geeigneten Gespielin gefragt, und du bist meine Empfehlung gewesen.« Sie wiegt den Kopf, schnalzt mit der Zunge. »Nachdem er die Fotos von dir als schwebenden Engel gesehen hat, war er sofort begeistert. Was allerdings dann passiert ist, war allein sein Spiel.«

Gil holt ein silbernes Etui und ein Feuerzeug aus der Tasche, entnimmt eine Zigarette und steckt sie an. Während sie genüsslich den Rauch inhaliert, fahre ich mit dem Daumen die Muster auf der Tischoberfläche nach, die sich durch Zigarettenbrandflecken und diverse Macken gebildet haben. Die Erwähnung der Fotos steigert die Hitze um weitere fünf Grad. Sie wurden im Dark Light aufgenommen. Einem erstaunlichen Ort, dessen Ambiente die Fantasie anregt, der jede Freiheit zur sexuellen Entfaltung bietet. Dort war ich von Ralf in die Club-Szene eingeführt worden. Eine abgefahrene Sache. Ohne zu wissen, was geschehen würde, hatte ich die Einwilligung zu einer erotischen Inszenierung gegeben. Erst war ich aufgeregt und erregt gewesen, dann bestürzt und von Angst überwältigt. Doch zu meiner großen Verblüffung verwandelte sich die Angst in Lust. Da meine Augen während der ganzen Zeit verbunden gewesen waren, bekam ich erst später einen Eindruck von der Performance, als Gil mir die Aufnahmen zeigte, die sie während der Vorführung fotografiert hatte: In eng geschnürter Korsage, die Arme über dem Kopf, mit zusammengebundenen Handgelenken stand ich vor einem großen schwarzen Federflügel. Auf den Fotos und für die Zuschauer wirkte es, als würde ich schweben. Dabei stand ich auf einem schwarzen Sockel, der lichttechnisch ausgeblendet wurde. Das scharfe Messer hingegen, mit dem Ralf meine Haut ritzte, stach silbern hervor. Er setzte die Schnitte so, dass sie ein filigranes Muster bildeten, das einem Spinnennetz glich. Beim Cutting wird niemand ernsthaft verletzt, denn die Haut wird nur oberflächlich geritzt. Das wusste ich jedoch nicht, und während der Inszenierung, hielt ich die warme Flüssigkeit, die über meine Haut floss, für Blut. Dabei stammte sie aus einem in der Faust verdeckt mitgeführten Spritzbeutel, der mit Theaterblut gefüllt war. Die Fotos zeigen mir meine innere Verletzlichkeit in den äußeren Verletzungen, deren optische Wirkung durch die scheinbare Verwundung entstanden ist. Wie wirken diese Aufnahmen wohl auf andere? Wie wirken sie auf François?

Ja, sie sind erotisch, trotz der Grausamkeit. Diese Doppelebene hat Gil gut eingefangen, und nur sie weiß, dass ein Messer in einer meiner Fantasien eine große Rolle spielt. Sie hat mir geholfen, mich selbst zu lesen, und deswegen habe ich auch den Dark Light Club erforscht: eine Hochburg des Hedonismus und ein exklusiver Tummelplatz für Lust-im-Schmerz-Suchende. So beobachtete ich, wie eine Domina einen Pranger für eine Erziehungsmaßnahme eines Mannes einsetzte, erfuhr die Bedeutung eines Andreaskreuzes und fand es ziemlich verrückt, dass man für einen Bereich des Clubs einen Stall nachgebaut hatte, inklusive eingespielter Geräuschkulisse. Alles diente dem erotischen Spiel und wurde von den Besuchern reichlich genutzt. Die Souveränität, mit der sie in der Lage waren, sich hinzugeben, selbst wenn andere sich auf Sesseln niederließen, um zuzuschauen, versetzte mich in Staunen. Darauf folgten Stunden voller sinnlicher Leidenschaft mit Ralf, die ich in köstlichem Rausch verbrachte.

Überhaupt hat mein Leben seit der ersten Begegnung mit Ralf, dem Szenografen und Inhaber der Agentur vibrant nerves, und seit der Freundschaft mit Gil, der Künstlerin, eine erstaunliche Dynamik erfahren. In welchem Verhältnis stehen wir drei eigentlich zueinander? Vermutlich in einer Art Ménage-à-trois, denn Gil und Ralf sind ebenfalls miteinander verbunden. Sie gründeten das Liliths Secret Theatre und teilen sich die Intendanz. Und wie passt François dazu? Die Erinnerung an seine Inszenierung im geheimen Gewölbe in seinem Haus lässt meine Schläfen pochen. Und nicht nur die.

Gil drückt ihre Zigarette in dem stählernen Aschenbecher aus. Die Bewegung holt mich zurück ins Hier und Jetzt. Gil ist gut im Schweigen, vor allem wenn sie raucht. Lange Gesprächspause stören sie nicht. »Als seine Frau Cecile noch lebte, haben sie ab und zu im Club feine Sessions abgehalten. Nun kommt er nur noch unregelmäßig. Es zieht ihn mehr in sein geliebtes Frankreich.«

»Ich habe die Fotos von Cecile in seinem Haus gesehen, sie war eine schöne Frau. Ich hätte die beiden gern einmal zusammen erlebt.«

»Es existieren von einigen ihrer Aktionen Videoaufzeichnungen. François wird nichts dagegen haben, wenn ich sie dir zeige.«

»Ich weiß nicht. Die Gefühle und Erfahrungen gehören den beiden. Ihnen zuzuschauen, erscheint mir unanständig. Außerdem sollte ich in dem Verlies eine Augenbinde tragen. Vielleicht möchte François nicht, dass ich ihn sehe, wenn er seine Lust auslebt, obwohl ich das schade finde. Nein, ich möchte die Aufnahmen nicht sehen. Es wäre ein Vertrauensbruch.«

»Gut«, sagt sie. »Deine Entscheidung. Allerdings könnte ich ihn fragen, ob ich dir die Aufnahme von eurem Treffen zeigen darf oder ob ich dadurch seine Pläne durchkreuze.«

Die schwatzenden Frauen am Nebentisch, die vergnügt am Eis leckenden Kinder und die Café frappé trinkenden Männer verblassen.

»Du hast Aufnahmen von François und mir?«

»Sicher. Videos, Filme. Kontrolle, du erinnerst dich? François stört es nicht, wenn es Aufnahmen von den Sessions gibt. Ganz im Gegenteil. Er findet großes Vergnügen daran, sie später noch einmal anzusehen.«

So wörtlich hatte sie das damals gemeint, als sie sagte, sie wolle Regie in meinem Leben führen? Nervös zerknautschen meine Hände den Stoff des Sommerkleides zwischen den Schenkeln. Was bei François im Haus stattgefunden hat, ist nicht mehr mein alleiniges Geheimnis. Jetzt setzt mir nicht nur die Sommerhitze zu, in Sekunden habe ich mein Kleid durchgeschwitzt.

Sie lächelt. »Soll ich ihn nun fragen?«

»Wen?«

»Na, François, wegen der Aufnahmen.«

»Du hast sie schon gesehen?«

»Ja.«

»Ich fasse es nicht!«

Meine Lust, meine Unsicherheit, gebannt in einem Video. Der Gedanke bringt mich durcheinander. Im Kastanienbaumdach über mir hängen keine grünen stacheligen Früchte mehr, sondern bösartige Augen, die mich beobachten.

»Warum?«, frage ich.

Gil zuckt mit den Schultern. »Du Süße. Erinnerst du dich an unser Gespräch im Theater? Ich habe verlangt, dass es keine Geheimnisse auf der Reise gibt«, sagt sie leise. »Außerdem sind alle Filme, die ich mache, Teil eines Kunstprojektes.« Unbekümmert fährt sie fort: »Irgendwann werde ich sie im Theater vorführen. Die Filme könnten auf Tablets gezeigt werden, die in schwarzen Kisten stehen. Sie könnten wie der Feed auf Instagram durchlaufen, schnelle Erregungsmuster beim Beobachter erzeugen, und ehe ihm richtig klar wird, was er zwischen all den Bildern gesehen hat, ist es schon wieder vorbei. Und er schaut wieder und wieder hin, bis er versteht … Oder der Besucher kann über Hashtags suchen, unter denen er dann Überraschendes findet. Oder wir gehen bewusst auf einen Vintagestyle à la Peepshow aus den 70ern. Du weißt schon: Münzeinwurf, Klappe auf, Blick hinein … je nachdem … Ein jeder als Voyeur.«

»Das glaube ich nicht!«

»Es ist noch nicht ausgereift. Es sind die ersten Ideen.«

Die Bedienung kommt an den Tisch.

»Lass uns bestellen, was möchtest du?«

Als ich nicht antworte, bestellt Gil zwei Eiskaffees.

»Du kannst übrigens auch Aufzeichnungen von Ralf und mir sehen. Wir filmen unsere Abenteuer ebenfalls. Wenn wir uns über das Konzept einig sind, werden wir entsprechende Filmsequenzen aussuchen. Vielleicht können wir den Ton jedes Clips über Lautsprecher verstärken. Der Saal ist dann erfüllt mit Stöhnen, Seufzen und Lustgeschrei: eine prickelnde erotische Atmosphäre! Du hörst dich übrigens toll an.« Erregung schwingt in ihrer Stimme mit. Auf ihrer Haut im Ausschnitt der Bluse glitzern Schweißperlen.

»Und wenn ich nicht einverstanden bin?«

»Bis es so weit ist, bist du einverstanden. Da bin ich optimistisch«, antwortet sie. »Wir machen was daraus. Verlass dich drauf. Ein Konzept muss her. Die Fülle des Materials lässt sich sonst kaum bändigen. Es ist ein Unterschied, ob wir uns die Filme unter dem Motto ›Unsere Pussys, unser Begehren‹ ansehen oder einfach nur unter ›Sex im 21. Jahrhundert‹ oder unter ›Rausch‹ oder ›Frauen, die dazu stehen, dass sie gierig sind, und Männer, dass ihnen das gefällt‹. Womit die Schlampen-Diskussion endlich beendet wäre.«

Ich bin wütend. »Na toll. Du filmst mich heimlich. Ich habe jetzt wirklich keine Lust von deinen künstlerischen Plänen zu hören. Ich bin nicht so abgeklärt, dass ich bei der Mitteilung, mit meiner Sexualität Teil eines Kunstprojektes zu sein, begeistert bin. Außerdem fühle ich mich hintergangen«, fauche ich, einen Tick zu scharf. »Für dich scheint das so selbstverständlich zu sein wie Kuchen backen oder einkaufen gehen. François hat gesagt, ich sei in dieser Welt allein. Stattdessen waren wir … ja, wie viele eigentlich? Gab es Zuschauer wie im Club? Habt ihr es irgendwie übertragen? Hast du die Aufnahmen Ralf gezeigt? Habt ihr euch über die Novizin Viktoria lustig gemacht, die zitternd und hilflos im Raum steht? Die denkt, sie lässt nur für François das Höschen über die Oberschenkel rutschen?«

Gil schaut unglücklich. »Viktoria, nein, entschuldige, du hast recht. Es tut mir leid. Ich hätte dir das nicht einfach hier erzählen dürfen. Das war unsensibel.«

Abrupt stehe ich auf. »Ich muss diese Aufnahmen sehen. Wo sind sie?«

»Im Theater. Doch ich sollte erst …«

»Nein, solltest du nicht. Zuerst hätte ich gefragt werden müssen.«

In dem Moment bringt die Kellnerin die Eiskaffees. Gil zahlt, und wir brechen auf, ohne die Getränke angerührt zu haben. Schweigend gehen wir nebeneinander her. Die Blätter der Kastanienbäume hängen schlaff an den Ästen. Auf der Zachariasstraße, die zum Theater führt, kriecht der Verkehr, der Berufsverkehr ist im vollen Gange. Das Gras am Seitenstreifen leuchtet ungesund gelb. Gleißend hell brennt die Sonne von oben, von unten wird die Hitze von der Asphaltdecke zurückgeworfen. Keine Regenwolke am blauen Himmel. Es fühlt sich an, als durchquere ich einen Backofen. Ich weiß nicht, was tun, wenn ich den Film sehe. Seine Herausgabe fordern? Riskier ich dadurch Gils Freundschaft? Kann ich ihr weiter vertrauen? Solches Zeug denke ich, während die Autos Stoßstange an Stoßstange neben uns her rollen und das Lärmen der Motoren unser Schweigen überdeckt.

 

Das Liliths Secret Theatre ist ein prächtiger Bau aus dem Jahr 1892 mit Sandsteinfassade. Die schwarzlackierten Türen auf den messingglänzenden Türklopfern heben sich aus dem repräsentativ gestalteten Portal besonders hervor. Doch die Tür, über die wir das Gebäude üblicherweise betreten, gehört zu einem wesentlich jüngeren angebautem Trakt, der im Hof hinter dem Gebäude liegt. In dem angedockten Flachdachgebäude ist der Sitz der Agentur vibrant nerves, für die ich arbeite. Jede von uns besitzt einen Schlüssel für das Haus. Die architektonische Verbindung zwischen den Gebäuden zeigt die Arbeitsweise der beiden Betriebe. Ein reger Austausch zwischen Agenturmitarbeitern und Theaterleuten ist gewünscht und wird gefördert. Räume, wie das Theatercafé oder das Lager werden genauso gemeinsam genutzt wie Kontakte und kreatives Potenzial jedes Einzelnen. Die Agentur hat ihre Stärke in der narrativen Ausstellungsgestaltung und Markeninszenierung, insofern profitiert sie von den Theaterleuten, und das Theater wiederum erhält das grafische Corporate Design und die Außenkommunikation über die Agentur.

Aufgrund der dicken Mauern und dem Zuschnitt des Raumes – lang, schmal und hoch, mit nur einem Fenster, das zum Hof hinausgeht – ist von der hochsommerlichen Hitze in Gils Büro wenig zu spüren.

Die rechte Wand ist mit einer Fotocollage tapeziert. Ein immerwährendes lebendiges Gebilde aus Fotografien von Kunstwerken, das sich ständig verändert. Dagegen wirken die mit Büchern gefüllten Regale auf der gegenüberliegenden Seite schwer und statisch. Es gibt nur zwei Sitzgelegenheiten, einen Hocker, dessen Sitzfläche mit cognacfarbenem Leder bezogen ist und der sehr bequem ist, und einen ebenso komfortablen Bürostuhl auf Rollen. Abwartend nehme ich auf dem Hocker Platz. Gil räumt etliche Kunstbände aus einem Regal. Dahinter befindet sich ein Wandtresor. Sie öffnet ihn mit einer Zahlenkombination, holt Speichermedien und eine Videokamera heraus.

Gil drückt mir die Kamera mit dem aufgeklappten Monitor in die Hand. »Ich habe den Film noch nicht heruntergezogen. Hier ist der Startknopf.« Sie zieht sich den Bürostuhl heran, schlägt die Beine unter und lehnt sich entspannt zurück.

Ich atme tief durch, starre auf den leuchtend blauen Bildschirm. Die Aufzeichnung beginnt nicht vor der massiven Eisentür zum mittelalterlichen Kerker im Haus von François Jugnot, nicht mit meinem zaghaft dahingehauchten »Ich bin Ihre Sklavin! Ich diene Ihrer Lust!«, sondern stellt den für bizarre Sexspiele gestalteten Raum vor: die kostbaren Teppiche, die Streckbank, die herrschaftlichen Lederstühle, den Schrank aus rotbraunem Mahagoni und das breite Messingbett mit Pfosten und Verstrebungen. Dann folgt ein Schwenk auf mich, wie ich da im eleganten cremefarbenen Kostüm stehe und warte. Wie damals vor Ort, reißt mich auch hier der gebieterische Befehl François, mich langsam zu entkleiden, aus meiner Starre. Ich erinnere mich, wie unzufrieden er mit der Geschwindigkeit gewesen war und wie er mir als Strafe Schläge versprach. In diesem Augenblick hatte ich es bereut, das Haus überhaupt betreten zu haben. Doch anders als zum damaligen Zeitpunkt weiß ich heute, was folgte.

Die Erinnerung verursacht mir eine Gänsehaut. Die Konzentration auf die Langsamkeit der Bewegung und das ständige Wiederholen des einfachen Vorgangs – des Aufknöpfens der Kostümjacke – veränderte meine Wahrnehmung. Dieses Hinauszögern war ein Teil des Spiels. Es diente zu seiner und meiner Erregung. Sie langsam zu steigern.

Diese Magie funktioniert auch jetzt. Bis ich im seidenen champagnerfarbenen Set aus Höschen, Büstenhalter und halterlosen Strümpfen mit Spitzen am Beinabschluss, in hellen Pumps von einem Bein auf das anderen tretend, dastehe, ist mein Erregungszustand genauso hoch wie im Verlies vor wenigen Wochen. Fasziniert betrachte ich diese Frau, als ob es eine andere wäre. Sie schreitet nun zum Schrank mit den Sexspielsachen, entnimmt ihm eine rote Satin-Augenbinde und geht zum Bett. Einen Moment bleibt sie dort stehen, streicht über den kostbaren Stoff des Bettbezuges, legt sich darauf und zieht sich die Augenbinde über den Kopf. Mir wird klar, dass ich gleich François sehen werde und mir der Anblick zuteilwird, der mir im Verlies verwehrt worden war. Eine lustvolle Spannung im Unterleib setzt ein. Und wieder wird die Kamera zu meinem Auge. Fängt seinen Auftritt im elegant geschnittenen dunklen Anzug ein. Das anthrazitfarbene Hemd wirkt bei dem Licht fast schwarz. Die weinrote Krawatte hat er nicht abgelegt. Dafür trägt er nun Handschuhe. Er mustert mich tatsächlich so, als habe er zärtliche Gefühle für mich. Als er die Ledermanschette um meine Handgelenke legt, taucht in seinen Augen ein Glimmen auf. Langsam zieht er einen Handschuh aus, schiebt die Körbchen des Büstenhalters nach oben und schlägt mit hoher Konzentration mit dem Handschuh auf meine Brüste. Auf seiner Stirn perlt der Schweiß, seine Augen glühen jetzt vor Lust. Damals hörte ich nur das Klatschen. Doch nun höre ich sein scharfes Einatmen, sein Stöhnen und wie sehr er es genießt, dass ich mich in der Fesselung winde.

All dies auf diesem kleinen Display zu verfolgen, ist wunderbar. Wie dieser Film sichtbar macht, was für mich im Verlies unsichtbar war! Ein Blick zu Gil verrät mir, dass sie mich beobachtet.

Mein Arm, der die Kamera hält, wird langsam müde. Ich winkele ein Bein stärker an und stelle die Kamera zur Entlastung des Armes auf dem Knie ab, ohne sie loszulassen.

»Du bist erregt«, flüstert sie. »Wenn du jetzt allein wärst mit diesen Bildern, was würdest du tun?«

Als ich nicht antworte, ergreift sie meine andere Hand, die auf meinem Oberschenkel liegt und schiebt sie mir unter das Baumwollkleid in den Schoß. »Das würdest du tun.« Ihre feingliedrige Hand lässt sie auf meiner liegen. Meine Finger verschränken sich mit ihren. Ich atme meinen verräterischen Duft ein. Ihr weißes Porzellangesicht lächelt, ihre Augen leuchten, ihre Stimme ist zärtlich. »Komm, trau dich.«

Gil verstärkt den Druck auf mein Geschlecht, massiert es rhythmisch mit ihren Fingern. Ich verliere den Kampf gegen die Selbstkontrolle und spreize die Oberschenkel. Der klatschende Rhythmus des Handschuhs und das Stöhnen aus der Kamera sind verstummt. Der Film ist zu Ende und geht doch weiter. Gils sonst so klarer Ausdruck in den Augen ist verhangen. Ihr Duft vermischt sich mit meinem. Gemeinsam streicheln wir meinen Venushügel durch den Stoff des Slips. Doch die Position ist unbequem, die Situation ungewohnt, ich kann mich nicht bis zum letzten Moment fallen lassen. Abrupt schiebe ich ihre Hand zur Seite, stehe auf, dränge mich an ihr vorbei. Ich kann ihr nicht in die Augen sehen. Wortlos lege ich die Kamera auf ihren Schreibtisch und stürme aus ihrem Büro.

Anstatt den Weg zum Hinterausgang zu nehmen, haste ich den Gang zum Foyer entlang. In der hohen Eingangshalle klingen meine Schritte laut. Die großen Fenster zeigen einen sich rasch verdunkelnden Himmel, der durch die rot gestrichene Decke eine Dramatik wie in einer Tragödie entfaltet. Die beiden marmornen Figuren, die Personifizierung der Liebe als Frau und die der Fantasie als Mann, deren Körper in klassizistischer Manier nur halb von antiken Gewändern bedeckt sind und an glücklichen Tagen Lebensfreude und sinnliche Lust ausstrahlen, erscheinen mir jetzt bedrohlich.

Die mächtige Außentür lässt sich schwer öffnen. Kaum bin ich draußen, reißt der Sturm sie mir aus der Hand, krachend fällt sie zu. Energisch stemme ich mich gegen den Wind, der weitere Gewitterwolken heran treibt. Endlich wird die Stadt von der drückenden Sommerhitze befreit werden. Blitze zucken unter dem tiefhängenden Himmel. Ich laufe los. Kurz bevor ich die Buschallee erreiche, in der ich wohne, treffen mich die ersten Regentopfen. Das Sommerkleid ist in Sekunden nass. Bei jedem weiteren Schritt spritzt Wasser die nackten Waden hinauf. Während ich die Haustür zu dem Altbau, in dem ich wohne, aufschließe, beginne ich schon zu frieren. Im Treppenhaus laufe ich die Stufen nach oben, nehme zwei auf einmal, erreiche schwer atmend meine Wohnung im dritten Stock, zerre mir in der Küche Kleid und Unterwäsche vom Leib, stopfe Kleidung und Scham gleich dazu in den Trockner. Erschöpft und fröstelnd schlüpfe ich unter die Bettdecke.

 

Albträume

 

Eine zierliche Frau sitzt mir gegenüber, den Kopf gesenkt, zwischen uns ein Schachspiel. Eine Spinne, groß wie eine Faust, seilt sich an ihrem Faden von der Decke herab. Sie schwingt vor meinen Augen hin und her. Mit ihren Hinterbeinen zieht sie einen weiteren Faden aus der Spinndrüse. Der baumelt durch die Luft, bis er am Turm hängenbleibt. Schon zieht die Spinne einen zweiten Faden hervor, an dem sie sich bis an den König hängt. So bilden die Fäden ein umgedrehtes Ypsilon. Am Seil entlang hangelt sie sich zurück zum Knotenpunkt. Mit weiteren Fäden webt sie in einer wahnsinnigen Geschwindigkeit ein Netz. Binnen Sekunden versieht sie die Speichen mit Klebetröpfchen. Ich rühre mich nicht, schaue nur fasziniert diesem Schauspiel zu.

Mit einem Mal wirft die Spinne das Netz über mich. Ich zapple in den klebrigen Fäden, die sich enger und enger um mich ziehen. Ich versuche, den Mund zu öffnen, um zu rufen, zu spät. Gefangen in einer zweiten Haut bringe ich keinen Laut mehr heraus. Durch schmale Schlitze sehe ich, wie die Spinne sich am Kokon festklammert. Die spitzen Klauen der Mundwerkzeuge bohren sich durch das Gewebe, nähern sich mir. Ein Schmerz fährt durch meinen Arm, als sie ihr Gift injiziert. Die Lähmung beginnt sofort, zieht in Schulter und Fingerspitzen. Wann wird sie die Organe erfassen? Ich ringe um Luft. Das Atmen fällt mir schwer. Ist dies bereits eine Folge der Lähmung?

Endlich reagiert die Frau mir gegenüber, hebt den Kopf. Es ist Gil, meine Freundin. Sie greift nach der Spinne und wirft sie durch den Raum. Mit verzweifelter Anstrengung zerrt sie am Gespinst, das mich einschließt, versucht, mich zu befreien. Die Luft geht mir aus, meine Lungen brennen, meine Sicht schwindet. Plötzlich schrecke ich auf.

Schweißgebadet sitze ich im Bett. Der Mund ist trocken. Die Leuchtziffern der Uhr zeigen Viertel nach elf.

Ein Traum. Es war nur ein Traum. Mein Puls rast. Ich atme mehrmals tief ein und aus, lege mich zurück, lausche dem Herzschlag und dem Regen draußen. Unter der Decke zusammengerollt, versuche ich, diesen Traum zu deuten. Das Spielbrett könnte die atemberaubende und verspielte sinnliche Welt voller Lust und Nervenkitzel sein, in die mich Gil und Ralf eingeführt haben. Ich bin aufgrund einer Anzeige in einem Stadtmagazin Mitglied des Ensembles von Liliths Secret Theatre geworden, einem Impro-Theater, das seinen Gästen eine ungewöhnliche Mischung an Inszenierungen liefert. Bei meinem ersten Engagement wurde die Bühne zum faszinierend-bizarren Spielplatz für Begehrlichkeit und der Abend war nur für geladenen Gäste, die sich von den raffiniert-frivolen Inszenierungen zum Mitmachen inspirieren ließen. Ich kam da schnell an meine Grenzen und begegnete meinen dunkelsten Ängsten. Die Spinne könnte ein Symbol dafür sein. Sie lebt in mir, vergiftet mich, verpestet die Luft mit ihrem Gestank. Gil versucht, mich von ihr zu befreien. Die Schachfiguren sind Angehörige der Theater-Company, die inzwischen zu Freunden geworden sind.

Klar, das sind Vermutungen, wie ich den Traum verstehen könnte. Eines ist jedoch gewiss: Will ich leben – und ich will leben –, dann sollte ich, damit ich wieder frei atmen kann, die Spinne nicht weiter füttern.

Ich träume oft und intensiv. Diese Art Traum ist neu. Meist träume ich von Alexander. Alexander, der mir zu der Erkenntnis verhalf, dass ein Ritter auf dem weißen Pferd nur im Märchen die Prinzessin vom Dämon erlöst. Im wahren Leben packt er ihr noch welche drauf.

Alexander, mein Professor in Medienanalyse, hatte ich seit seiner ersten Vorlesung vergöttert. Ich spürte Hitze, wenn sein Blick mich streifte. Sein Lächeln war vielversprechend, seine Sprache präzise, seine Haut roch nach Seife und Zeder. Viele bewunderten ihn, nicht nur die Studentinnen und Studenten des Studienganges der visuellen Kommunikation. Er hatte viel veröffentlicht. Auf seine Meinung wurde wert gelegt. Klar fühlte ich mich geschmeichelt und geehrt, dass er ausgerechnet mich auserwählte. Er schien verlässlich, schien zu wissen, was richtig und falsch war. Er gab mir Orientierung. Ich war glücklich. Im Jahr meines Master-Studium-Abschlusses nominierten ihn Professorenkollegen, Hochschulmitarbeiter und Teile der Studentenschaft zum Professor des Jahres. Er genoss die Wertschätzung, und ich habe ihm meine uneingeschränkt entgegengebracht. Als ich als beste Studentin des Jahrgangs die Universität verließ, schenkte er mir einen Porsche Boxster. Bei einem Essen in einem exklusiven Restaurant in einem Schloss philosophierte er über Konflikte, die sich daraus ergäben, wenn beide Partner eine Karriere anstrebten. Er sei auf dem Weg einer der besten und erfolgreichsten Akademiker zu werden. Hingegen sei ein guter Master noch kein Garant für eine glänzende Karriere. Er redete von Power-Paaren und Gewinner-Teams, von Stürmern und Seitenspielern. Am effektivsten sei es, wenn nur einer in der Beziehung Karriere mache und der andere den Background regle. In grenzenlosem Vertrauen hatte ich dieser Sichtweise zugestimmt.

Ja, ich hielt es sogar für die Entscheidung einer selbstbewussten emanzipierten Frau, die im Team mit ihrem Mann das gemeinsame Leben gestaltet.

Ich hatte Alexander sehr geliebt und nie daran gedacht, dass er diese Ansicht allein aus ureigenen Interessen vertrat. Heute weiß ich, warum er das tat: Er wollte seine überlegene Position nicht verlieren. Getrieben von Macht, Status und Titeln wollte er, dass ich ihn unbegrenzt unterstützte. Zum Zeichen seiner Liebe und Verlässlichkeit machte er mir einen Heiratsantrag. Ohne zu ahnen, dass er nicht wirklich daran interessiert war, partnerschaftlich zu leben, nahm ich den Antrag an.

Als er die Auszeichnung Professor des Jahres entgegennahm, saß ich bereits als seine Ehefrau in der Aula im Publikum und applaudierte. Die anderen Professoren und Professorinnen, die ebenfalls geehrt wurden, erhielten die Auszeichnung für ihr Engagement für die Belange der Studenten oder für ihr hohes Maß an individueller Betreuung. Die Sätze der Würdigung für Professor Alexander Hochmuth hoben andere Aspekte hervor: »Er schafft es stets eine hohe Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, sei es in der Vorlesung oder im persönlichen Gespräch. Durch ein ausgezeichnetes Netzwerk ist er eng mit wichtigen Firmen und Institutionen der Region verbunden und nutzt diese Beziehungen für seine aktuellen und spannenden Vorlesungen.«

Ich verwechselte sein männliches Dominanzgebaren mit Weltgewandtheit. Merkte nicht, wie er mich manipulierte, wie ich allmählich jegliches klare Urteilsvermögen verlor. Hatte ich anfangs sein Wissen geschätzt, hasste ich es mittlerweile, wenn er mir seine Überlegenheit anpries. Ja, ich empfand jeden Satz als eine schallende Ohrfeige. Und ich hatte geglaubt, mit diesem Partner an der Seite könnte ich wachsen. Irgendwann blieb mir nur noch die körperliche Attraktivität als einzige Währung.